Am 4.11.2020 lud die FH-Salzburg/Studiengang Betriebswirtschaft zum 2. Agilen Abend, dieses Mal online. Als Gast ist der hochkarätige Schweizer Organisationsentwickler Gerhard Fatzer eingeladen, der in seinem Netzwerk Koryphäen wie Edgar Schein und Otto Scharmer mit an Bord hat. Nachstehend ein Interview vom August 2020 mit dem Bestsellerautor zu seinem Buch „Organisation und Inspiration“.

Ana Campos, on 26.08.2020 17:45:38: https://news.trivadis.com/blog/interview-fatzer

Künstler und Führungskräfte haben auf den ersten Blick nichts gemein. Auf den zweiten jedoch schon, wie uns Gerhard Fatzer, Pionier der Organisationsentwicklung und Bestsellerautor, erklärt. Ein Gespräch über Inspiration in Unternehmen, Elon Musk und das Ende der Einzelspitze.

In Ihrem Buch «Organisation und Inspiration» schreiben Sie, dass Führungskräften oft Inspiration fehle. Was verstehen Sie unter Inspiration?
Innere Wahrnehmungen und Ideen, die man intuitiv hat. Je höher oben auf der Karriereleiter, desto eher werden sie gekappt resp. privat gehalten.

Warum?
Der Hauptgrund ist oft fehlender Mut. Es wird immer sofort gefiltert: Was ist realisierbar? Das sieht man besonders gut, wenn man strategische Übungen macht: Zu Beginn sind viele Ideen vorhanden. Wenn es dann aber um den «Action Plan» geht, bleiben nur sehr wenige übrig. Es findet ein innerer Stopp-Prozess statt. In einer Organisation wird dies auf allen Ebenen multipliziert.

Wie gelingt es einer Organisation demnach, die Inspiration zu behalten?
Wichtig ist, die Mitarbeitenden zu ermutigen, ehrlich zu sein. Fakt ist, dass nur in den seltensten Fällen vollständige – also auch negative – Informationen an Vorgesetzte weitergegeben werden. Mit dem Resultat, dass der CEO am Ende der Kette nur einen kleinen Teil der Information hat, der ihn nicht handlungsfähig macht. Natürlich sollte man negative Informationen entsprechend auch nicht sanktionieren.
Grundsätzlich lege ich allen Führungskräften ans Herz, einen – wie es der berühmte Organisationsforscher Edgar Schein nennt – «Spirit of Inquiry» zu pflegen. Also neugierig und offen zu sein, in jeder Hinsicht. Nicht nur die besten Varianten zu denken, sondern auch schwierige – und wie man damit umgehen möchte.

Claus Otto Scharmer beschreibt Führung als «Führung vor der leeren Leinwand». Der Leader als Künstler also?
Scharmer hat dieses Bild von Joseph Beuys übernommen: der Künstler vor der leeren Wand, der auf Inspiration wartet. Eigentlich passt das Bild nicht zum Klischee eines Managers. Es widerspricht der Grundannahme, dass der Manager alles unter Kontrolle hat und jederzeit schnell reagiert, ohne vollständige Informationen zu haben. Beim Künstler geht es immer ums Warten auf den richtigen Moment – im Wirtschaftskontext sind dies «Windows of Opportunity». Um diese zu ergreifen, braucht es eine offene Wahrnehmung. Das ist, was Künstler mit Führungskräften verbindet. Gerade in Stresssituationen neigen wir dazu, einfach zu wiederholen, was wir bereits einmal erfolgreich angewendet haben. Dabei wäre es wichtig, zuerst wahrzunehmen und zu spüren, was ist – und der Inspiration Raum zu geben. Und erst dann zu handeln.

Sie plädieren dafür, dass CEOs ersetzt werden durch Führungssysteme, die aus mehreren Personen bestehen. Warum?
Eine Person allein kann unmöglich alle Fähigkeiten abdecken, die es braucht, um ein Unternehmen zu führen. Ein gutes Beispiel ist Elon Musk. Er hat zwar unglaublich visionäre Ideen, interessiert sich aber wenig für die technischen Details. So lässt er neuartige Batterien entwickeln, aber niemand weiss, wie diese zu löschen sind, falls sie einmal anfangen zu brennen. In meinem Buch plädiere ich deshalb dafür, in der Leitung eines Unternehmens mehrere Leader nebeneinander zu installieren – je nach Entwicklungsstufe einer Organisation kann sich diese Konstellation verändern. Der visionäre Leader – also das, was die meisten von uns unter einem CEO verstehen – ist nach diesem Modell nur einer von mehreren. Dies gilt übrigens grundsätzlich für alle Teams: Ein gutes Team ist eine Gruppierung von Personen, die alle Fähigkeiten zur Erreichung eines bestimmtes Zieles auf sich vereinen. Wenn eine Fähigkeit fehlt, muss man diese entweder entwickeln – oder eben eine Person hinzunehmen, die diese Fähigkeit hat.

Gleichzeitig scheint zum Beispiel das Co-CEO-Modell zum Scheitern verurteilt, mit wenigen Ausnahmen. Woher kommt das?
Man nimmt aktuelle Beispiele wie SAP als Anlass zu sagen, dass das Co-Modell nicht funktioniert. Dabei gibt es zahlreiche erfolgreiche Beispiele, z. B. Microsoft. Da gab es immer Bill Gates zusammen mit Steve Ballmer, das hat sehr gut funktioniert. Oder Apple: Steve Jobs alleine wäre gescheitert. Er brauchte Steve Wozniak. Grundsätzlich scheint das Co-CEO-Modell in Gründerorganisationen eher zu funktionieren. Wo es hingegen schwierig wird, ist in reifen Organisationen, wie z. B. SwissRe und Swisscom. Denn dort geht es primär um Macht. Grundsätzlich basiert ein Co-Leadership auf einer sehr vertrauensvollen Beziehung und Wertschätzung. Man muss sich blind aufeinander verlassen können.

Edgar Schein spricht in diesem Zusammenhang auch davon, dass eine Führungskraft die Beziehung zu seinen Mitarbeitenden «persönlich machen» und „vorurteilsfrei gestalten“ sollte, wenn er erfolgreich sein will. Wie meint er das?
Natürlich ist eine Führungskraft nicht der Therapeut seiner Mitarbeitenden, und diese sind auch nicht Teil seiner Familie. Aber man muss es schaffen, eine Atmosphäre zu kreieren, in der Vertrauen und Verlässlichkeit da sind. Nur so werden die Mitarbeitenden ehrlich sein. Und das ist, wie wir bereits diskutiert haben, zentral.

Wie gelingt es uns denn gerade jetzt, mit Home Office, Abstand und Maskenpflicht, «professionelle Nähe» aufrechtzuerhalten?
Man muss sich als Unternehmen überlegen, wie man mit der neuen Distanz umgeht und wie man sie kompensiert. Homeoffice und die damit verbundenen Kommunikationsformen haben verschiedenste Implikationen. So weiss man aus der Forschung, dass die Aufmerksamkeit bei Video-Konferenzen nach spätestens zwei Stunden weg ist. Auch bedeutet das Homeoffice für viele Stress, weil sie auf sich selbst zurückgeworfen werden und das familiäre Umfeld um sich haben. Das konnte man gut bei der Swisscom beobachten, als virtuelle Offices eingeführt wurden – das hat zu massivem Stress unter den Mitarbeitenden geführt. Die jetzige Notsituation zur Normalsituation zu machen, kann also nicht die Lösung sein.

Was inspiriert Sie persönlich?
Reisen gehört für mich zum Inspirierendsten. Sich in fremde Kontexte zu begeben und zu schauen, wie man damit umgeht. Auch die Natur ist sehr inspirierend für mich. Und natürlich Freundschaften. Musik: In einer Gruppe Musik zu machen und etwas Neues zu kreieren, finde ich einfach schön. Wein geniessen, Fotographie, Radfahren.

Sie haben auf Ihrer, wie Sie es selbst nennen, «Forschungs- und Entwicklungsreise» einige der prägendsten Köpfe unserer Zeit getroffen – so z. B. Edgar Schein, Chris Argyris und Carl Rogers, um nur ein paar zu nennen. Wie schaffen Sie es, gegenüber neuen Bekanntschaften neugierig zu bleiben?
Ich versuche das zu pflegen, was ich anderen rate: neugierig und offen zu bleiben. So tausche ich mich regelmässig mit Kolleginnen und Kollegen, Studierenden und Führungskräften aus der ganzen Welt aus. Mich nur noch mit teurem Wein zu beschäftigen und diesen zu degustieren, wie dies unter einigen Altersgenossen teilweise der Fall ist, ist nichts für mich. Gerade in Persönlichkeiten wie Edgar Schein habe ich grossartige Vorbilder. Auch mit 92 ist er immer noch unglaublich neugierig und sagt: Nichts ist sicher, wir müssen immer offen bleiben. Und wir müssen bereit sein, die Ansicht, die wir gestern leidenschaftlich vertreten haben, zu revidieren.

Abschliessend: Was möchten Sie mich gerne fragen?
Ich möchte Sie gerne fragen, was Sie bei Trivadis genau machen?

Wir unterstützen unsere Kunden dabei, mehr aus ihren Daten zu machen. So haben wir beispielsweise für ein Heim, in dem Kinder 24 Stunden am Tag beatmet werden, eine Lösung entwickelt, die die medizinischen Geräte und die Pflegedokumentation miteinander verbindet und die zugehörigen Daten auswertet. So können die Pflegekräfte rechtzeitig erkennen, wenn es einem Kind nicht gut geht.
Oh, das ist super, sehr schön.

Über Gerhard Fatzer 

Gerhard Fatzer (* 1951) ist ein Schweizer Psychologe und Pionier der Organisationsentwicklung im deutschsprachigen Raum. Seit 1991 ist er Leiter des Trias-Instituts für Coaching, Supervision und Organisationsentwicklung in Grüningen. Fatzer hat CEOs und Vorstände verschiedenster global tätiger Konzerne beraten, so z. B. Henning Kagermann, ehem. Vorstandsvorsitzender von SAP in der Doppelspitze mit Dietmar Hopp. Ebenso den Technikchef der Dornier Flugzeugwerke, obere Teams bei SWR 3 oder Daimler und oberste Führungsteams von techn. Zusammenarbeitsprojekten in der ganzen Welt (GTZ). Er gibt Buchreihen, Zeitschriften und Erfolgstitel heraus und ist KeyNote Speaker auf Konferenzen und in den Medien.